6. September 2015
Dynamisch verzerrte Häuser, manieristisch verdrehte Säulen, Architektur welche die Regeln der Schwerkraft außer Kraft zu setzten scheint und Porträts, die zwischen Figuration und Abstraktion oszillieren – die Bildwelten von Steffen Plorin sind im ersten Moment vor allem irritierend. Bei näherer Betrachtung lassen sich überall fein eingeschnittene Kreise erkennen. Mithilfe dieser Kreise werden die Bildmotive ineinander und umeinander verdreht. Dadurch finden Verschiebungen und Neuanordnungen statt, die Bildelemente werden dekonstruiert und neu zusammengesetzt. Schließlich ist nichts mehr so wie wir es gewohnt sind. Stattdessen stellt der Künstler Steffen Plorin immer wieder die Frage: Wie könnte unsere alltägliche Umwelt alternativ aussehen?
Seine im Kunstverein Elmshorn gezeigten Foto-Arbeiten lassen sich in zwei Kategorien teilen: Porträts und Architektur-Bilder. Die Architekturbilder zeigen neue Blickwinkel und Perspektiven auf Gebäude, die durch ihre Normalität meistens unserer Wahrnehmung entgleiten. Sie werden nun durch ihre Verfremdung in den Fokus gerückt. Die Verdrehungen der Bilder wirken als Störfaktoren, die uns aus unserer gewohnten Sehweise herausreisen. Diesem Prozess ist durchaus kritisches Potenzial zueigen. Indem uns Steffen Plorin eine Parallelwelt zeigt, in der Bauwerke anderen Regeln folgen, setzt er sich gleichzeitig kritisch mit der vorhandenen Bausubstanz auseinander. Und appelliert an uns als Betrachter, unsere eigene Wahrnehmung ebenfalls zu hinterfragen.
Die Porträts spielen mit den gleichen Faktoren. Während sich in den Architekturen auch einzelne Kreise finden lassen, arbeitet Steffen Plorin hier hauptsächlich mit konzentrischen Kreisen, also solchen, die einen gemeinsamen Mittelpunkt haben. Dadurch ergeben sich oftmals Assoziationen an Zielscheiben. Die Personen auf den Bildern rücken explizit ins Zentrum, sind zum Abschuss durch Reflexion und Nachdenken freigegeben und werden zum Mittelpunkt einer wahrnehmungstheoretischen Studie, die der Künstler mit uns als Betrachtern durchführt. Die Frage dieser Studie ist: was löst die Verfremdung der Realität bei uns aus?
Mit seiner Verfahrensweise begibt sich Steffen Plorin in die Nähe surrealistischer Methoden. Auch dort spielten die Künstler seit den 1920er Jahren intensiv mit der Wahrnehmung und dem alltäglichen Sehen. Der bekannte belgische Maler Rene Magritte zum Beispiel arbeitet ebenfalls mit der Verfremdung in einem bekannten Kontext. Es gibt eine Werkreihe von Magritte, in der er geläufige Bilder aus der Kunstgeschichte eins zu eins kopiert. Die Personen jedoch ersetzt er durch sitzende Särge, eine im Übrigen einmalige Angelegenheit in der Geschichte der Kunst. Der Betrachter wird nun zum einen zum Nachdenken über gesellschaftliche Normen angeregt. Gleichzeitig jedoch kennt er das Ursprungsbild, weshalb er immer impulsiv versuchen wird, Magrittes veränderte Version in seinem Kopf zu korrigieren.
Gleiches geschieht mit den Arbeiten von Steffen Plorin. Automatisch versucht unser Verstand die Kreise zurückzudrehen. Wir sind bemüht die Zeit rückwärts laufen zu lassen und die Bilder imaginär in ihren ursprünglichen Zustand zu bringen beziehungsweise sie nach unserer Vorstellung „geradezubiegen“.
Das Hinterfragen von vorgegebenen ästhetischen Kriterien und normativen Wahrnehmungsprozessen ist also das Hauptmotiv in Steffen Plorins Werk. Ebenso spannend wie diese inhaltliche Ebene ist der Prozess der Bildentstehung. Steffen Plorin betitelt seine Arbeiten als „Rollagen“. Die Rollage ist eine Abwandlung der allgemein bekannteren Collage. Sie ist ein relativ junges Phänomen, entstanden im letzten Jahrhundert und erfunden von dem tschechischen Künstler Jiri Kolar (1914-2002). Der Begriff beschreibt ein Verfahren, bei welchem Bilder zerlegt und wieder neu zusammengesetzt werden. Während dabei üblicherweise 2-3 verschiedene Bilder zu einem neuen kombiniert werden, arbeitet Steffen Plorin lediglich mit einem Motiv. Eine weitere Eigenheit, die sich nur bei ihm findet ist die Benutzung des Eingangs erwähnten Motiv des Kreises.
„Überall Kreise, wohin man auch schaute.“ ist Steffen Plorins Resummée wenn er über die Retrospektive des dänischen Künstler Poul Gernes spricht, die er 2010 in den Deichtorhallen in Hamburg sah. Die Ausstellung prägte Steffen Plorin nachhaltig. Darüber hinaus sind seine Arbeiten formal stark vom Kubismus geprägt. In einer Phase absoluter Orientierungslosigkeit während des Studiums konnte er explizit mit dieser Kunstströmung rein gar nichts anfangen – und ist damit vermutlich weder der erste noch der letzte gewesen, dem dies so ging. Auf Anraten seiner damaligen Professorin setzte er sich aber gerade deswegen umso intensiver mit kubistischen Zerlegungen auseinander. Insofern sind seine Rollagen einem Gemälde von Picasso oder Braques näher, als man im ersten Moment vermuten würde. Wie im Kubismus wird auch bei Steffen Plorin der Raum wie durch ein Kaleidoskop aufgebrochen und zerlegt. Es entsteht ein neuer, dynamischer und abstrakter Raum oder aber ein bewegtes Porträt, welches eine Person aus mehreren Perspektiven gleichzeitig zu zeigen scheint. Das wir heute vor den faszinierenden unikatären Rollagen Plorins stehen verdankt sich also der Verknüpfung zweier glücklicher Fügungen: Steffens Orientierungslosigkeit während des Studiums und der Begegnung mit Arbeiten von Poul Gernes.
Nach dem Inhalt und dem formalen Aspekt der Arbeiten möchte ich abschließend noch auf den Punkt des Materials zu sprechen kommen. Denn das gerade im Zeitalter digitaler Fotografie faszinierende an Plorins Arbeiten ist, dass es sich Durchweg um analoges Bildmaterial handelt. Gerade in der Anfangszeit bedient er sich häufig alter Postkarten – ein falscher Schnitt und das Werk ist unwiederbringlich dahin. So ist jede der Arbeiten ein Spiel mit dem Risiko, mit dem Zufall und ein Austesten der eigenen Präzision. Und auch das ästhetische Endresultat ist nur erahnbar – es gibt keine Möglichkeit die Verschiebungen im Vorhinein auszuprobieren. So ist die Einfachheit des Arbeitsprozesses verblüffend, wenn man sie einmal erkannt hat und fasziniert dennoch durch den hohen Grad an Präzision und Könnerschaft, die sie dem Künstler abverlangt. Gerade in Zeiten, in denen wir von Bildern überflutet werden führt uns Steffen Plorin damit die Qualität und den Wert des Einzelbildes vor Augen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen beim Betrachten und Entdecken und einen schönen Sonntagvormittag.