Anne Simone Kiesiel: Jay Gard – Formfragen. In: UNIKAT XVII, hrsg. von der Spiegelberger Stiftung, Hamburg 2023.

Jay Gard – Formfragen.

Was für die Evolution der Gesellschaft die Evolution von Sprache bedeutet hatte, ist für die Evolution des Kunstsystems die Evolution des Ornamentalen.“ Niklas Luhmann[1]

Die Frage nach dem Wesen der Form ist eine der Kernfragen der Kunstgeschichte wie auch ihrer Nachbardisziplinen. Zahlreiche Debatten wurden und werden über die „gute Form“, über ornamentale Formen und – im Zuge der Abstraktion – über „formlose“, also sich von jedweder Gegenständlichkeit lösende Formen, geführt. Bis heute ist der Diskurs nicht an einem Ende angekommen, immer wieder schwenken die Positionen um. 1893 attestierte der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl dem Ornament als der kleinsten und schmückendsten Einheit von Form eine eigenständige Stilgeschichte.[2] Bereits 1908 forderte dagegen sein Lanfdsmann Adolf Loos in seiner Schrift „Ornament und Verbrechen“ dazu auf, auf jedwedes Ornament zu verzichten.[3] Die Pioniere der abstrakten Malerei wie Paul Klee oder Piet Mondrian fürchteten nichts „mehr, als dass ihre revolutionären Errungenschaften mit Ornamenten verglichen würden. Jedoch, das ‚Reich des Ungegenständlichen‘ existierte, lange bevor Wassily Kandinsky um 1911/12 sein erstes abstraktes Aquarell schuf, allerdings angesiedelt im dienenden Bereich der Dekoration und Ornamentik. Heute stehen wir vor der Situation, dass die Malerei der Gegenwart von Frank Stella bis Philip Taaffe ohne den Begriff des Ornaments gar nicht mehr zu diskutieren ist.“[4] Zumal Ornamente und auch charakteristische Formen, die in der Sprache des Designs seit den 50er Jahren als „gute Form“ beschrieben werden, unseren Alltag omnipräsent durchziehen – meist ohne dass wir ihrer Schönheit Aufmerksamkeit widmen. Wie entstehen diese Formen? Sind sie in Form gegossener Ausdruck menschlicher Kreativität, spontan entstehende Neuschöpfungen? Und wie prägen sie unser ästhetisches Grundverständnis? In seinem künstlerischen Schaffen widmet sich Jay Gard pointiert und humorvoll, mit ästhetischer Feinsinnigkeit und in teils großen Gesten solchen formspezifischen Fragestellungen.


[1] Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1995, S.349.

[2] Vgl. Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. Berlin 1893.

[3] Vgl. Adolf Loos: Ornament und Verbrechen (1908), in: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 276–288.

[4] Markus Brüderlin: Vorwort. In: Ausst.-Kat: Ornament und Abstraktion : Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog ; [anlässlich der Ausstellung „Ornament und Abstraktion – Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog“ in der Fondation Beyeler, Riehen, Basel 10. Juni – 7. Oktober 2001] / hrsg. von ders. S.10-13, S.10.

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